Das verschusselte halbe Jahrhundert
Sonntag habe ich einen Artikel darüber gelesen, dass die Schwebfliegen nach kontinuierlichen Messungen auf der schwäbischen Alb im Zeitraum der letzten fünfzig Jahre zu 80 bis 97 % verschwunden sind.
Das ist blöd, denn sie sind wichtig für die Bestäubung und ihre Gegenspieler sterben dann auch aus. Das wiederum ist blöd für das Ökosystem und das ist dann blöd für uns.
Dementsprechend wurden die Erkenntnisse auch als dramatisch eingestuft. Ein Experte relativierte jedoch die 97 % schnell wieder, die sollte man nicht überbewerten, die absoluten Zahlen seien aussagekräftiger.
Kann ja sein. Und natürlich müsste man erstmal wissen, ob die Zahl denn nun gilt oder nicht. Trotzdem schaffe ich es kaum, 80-97 % nicht überzubewerten. Selbst wenn ich der Empfehlung des Experten folge und es großzügige – sagen wir mal – 70 % sein lasse, finde ich das schon immer noch beeindruckend. Wenn der Anteil der Arbeitlosen in Deutschland bei 70 % läge oder es sich um die Erhöhung des Benzinpreises handelte, dann würde das bestimmt ganz schön einschlagen.
Macht aber nichts, andere bewerten auch nicht über.
Eine Sprecherin des baden-württembergischen Landwirtschaftsministeriums sagt, sie sehen das Problem, aber beim Artenschutz kann man den Schalter nicht von einem auf den anderen Tag umlegen.
Klar, solche Schalter brauchen ein bisschen länger. Nur „von einem Tag auf den anderen“ … die Schwebfliegen haben sich doch fünfzig Jahre Zeit gelassen um zu verschwinden!
Fragen über Fragen und es entstehen laufend neue, zum Beispiel:
- wie viele Jahre braucht so ein Schalter insgesamt, bis er umgelegt wird? Wenn fünfzig Jahre nicht ausreichen, dann vielleicht so ca. hundert?
- Und welche Prozentzahl an verschwundenen Schwebfliegen wäre so überzeugend, dass der Schalter zackig umgelegt werden kann? Auch hundert?
Oder in absoluten Zahlen: Wie viel weniger Schwebfliegen müssen in zwei Sommermonaten auftauchen, damit der Hebel in Bewegung kommt? Denn 290 (2017) statt 10.000 (1972) reichen dafür ja wohl vorn und hinten nicht aus.
Null Schwebfliegen?
Weniger geht nicht, aber mein Gefühl sagt mir, dass es trotzdem noch weniger als null sein müssen. Ich glaube nämlich, das Problem ist ein ganz anderes.

Diese Sache mit den Schwebfliegen, die fühlt sich nicht dringlich an und man sieht ja auch nichts. Also ist auch nichts!
Bestäubung und Schwebfliegen sind kein Bestandteil unseres Alltags, sie spielen keine Rolle. Da können wir mit noch so viel Abstraktionsfähigkeit und vorausschauendem Denken gesegnet sein. Es ist nun mal nicht üblich, dass wir sagen „krass, gestern ist wieder kaum bestäubt worden, mir ist schon ganz übel. Pass bloß auf, dass dir das nicht passiert.“
Und selbst wenn sie eine Rolle spielten, wäre das auch egal, denn das Verschwinden hat seinem Wesen nach viel mit Unsichtbarkeit zu tun. Ganz im Gegensatz zum Auftauchen! Erst recht, wenn dabei kein Krach gemacht wird.
Die Schwebfliege sagt nicht „Ich geh jetzt, mir reicht’s“ und reißt auch nicht beim Herausgehen noch schnell einen Topf aus dem Regal, damit der mit Getöse auf den Boden donnert. Wahrscheinlich würden wir dann sogar anfangen, uns für sie zu interessieren.
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Wer sich jetzt schon interessiert: Gesetzespaket zur Stärkung der Biodiversität (das ist der baden-württembergische Schalter). Liest sich ganz schön.